„In den Niederlanden habe ich eine journalistische Karriere gemacht, die in Italien undenkbar wäre“

„Solange man es nicht am eigenen Leib erfährt, kann man nicht wissen, was es heißt, ein Auswanderer zu sein“, sagt Lara Lago, eine 33-jährige, in Amsterdam tätige Journalistin aus Italien, die im Dezember 2016 mit einem Post auf Facebook auf die unglückliche Äußerung des italienischen Arbeitsministers Giuliano Poletti reagierte. Der Minister hatte die jungen Auswanderer als „Menschen, die man sich am besten vom Hals schaffen sollte“ bezeichnet und somit Empörung bei vielen Italienern erregt, die im Ausland leben. Unter ihnen war auch Lara, die einen offenen Brief auf Facebook veröffentlichte, in dem sie Poletti dazu einlud, „sein Leben in einen 23 Kilo schweren Koffer zu packen“ und den Alltag eines Auswanderers selbst zu erleben. Innerhalb von wenigen Stunden erfuhr der Brief eine unerwartete Resonanz. Laras Worte wurden von den wichtigsten nationalen Zeitungen wiedergegeben, beinahe 100.000 Mal geteilt und bekamen über 160.000 Likes.

Obwohl sie sich ungern als Beispiel des sogenannten Braindrains bezeichnet, ist Lara eine der vielen italienischen Emigrant(inn)en, die das Land nicht freiwillig, sondern aus Notwendigkeit verließen. Lara musste sogar zweimal neu anfangen, zunächst in Albanien und dann in den Niederlanden, weil sie in Italien keinen Job als Journalistin finden konnte. „Ich bin mit meinem Leben und meiner Arbeit in Amsterdam zufrieden, aber wenn ich danach gefragt würde, ob dies ‚meine Stadt‘ sei, würde ich ohne zu zögern ‚Nein‘ antworten. Nach dem Poletti-Brief sagte mir mein Arbeitgeber, dass er alles unternehmen werde, damit ich in Amsterdam bleibe. Das freut mich selbstverständlich, aber eigentlich möchte ich irgendwann zurück nach Italien!“, erzählt uns Lara in einem Interview.

Journalistin in den Niederlanden

„Ich musste Italien verlassen, um meinen Beruf ausüben zu können. Nach neun Jahren Arbeit als Journalistin hatte ich das Gefühl, dass man in Italien Verbindungen braucht, um Zugang zu einer internationalen Redaktion zu bekommen, und dass dagegen das Leistungsprinzip tot und begraben ist. Deswegen fing ich an, nach offenen Stellen für Journalist(inn)en im Ausland zu suchen und gleich merkte ich, dass es dort mehr Möglichkeiten gab. Auf LinkedIn stieß ich auf eine Ausschreibung von Zoomin.TV, der Videonachrichtenagentur, bei der ich gerade in Amsterdam tätig bin. Man suchte nach einer italienischen Journalistin, die Englisch beherrschte und Videos schneiden konnte. 303 Menschen bewarben sich um eine einzige Stelle. Anfangs war ich nicht sehr zuversichtlich, aber nach zwei Monaten Auswahlverfahren bekam ich die Stelle. Den Vertrag unterschrieb ich von zu Hause aus, ohne meinen Arbeitgeber persönlich getroffen zu haben. Im Februar 2016 zog ich nach Amsterdam und zwei Tage später fing ich mit der neuen Arbeit an. Seitdem ging es mit mir bergauf. Begonnen habe ich als Redakteurin für den italienischsprachigen Desk, dann wurde ich zur Koordinatorin der italienischen Geschichten und schließlich wechselte ich zu den internationalen News. Letzteres war sehr intensiv und anregend. Dank eines Netzwerks von Leuten in der ganzen Welt verfolgten wir per Facebook-Livestream die Terrorattacke in Machester, den Brand im Londoner Grenfell Tower, die Wahl Macrons in Paris und viele weitere Ereignisse. Im Juli 2017 wechselte ich zuletzt in einen neuen Bereich, der sich Just Me nennt und wo ich Geschichten starker und mutiger Frauen in Minidokus erzähle“.

Die Schwierigkeiten des Lebens im Ausland

„In Amsterdam kannte ich niemanden. Vor der Abreise fühlte ich mich glücklich und aufgeregt hinsichtlich der neuen beruflichen Herausforderung. Diese positive Einstellung verschwand aber, als ich ankam. Das war einer der traurigsten Tage meines Lebens. Ich wurde von Regen, Kälte und einer unbekannten Sprache empfangen. An jenem Tag weinte ich wie verzweifelt, weil es sich so anfühlte, als ob ich von vorn anfangen musste. Gerade auf diese Gefühle habe ich mich im Brief an Minister Poletti bezogen, also auf das Trauma meiner ersten Tage als Ausgewanderte. Ich wusste nicht, wo ich einkaufen sollte, erinnerte mich nicht an den Namen der Straße, in der ich wohnte, hatte keine Ahnung, wie ich abends nach Hause kommen sollte. In der neuen Wohnung hatte ich nicht einmal eine Bettdecke. Als ich damals auf dem Rückweg vom Ikea-Einrichtungshaus eine Riesentasche auf dem Rücken trug, habe ich mich wirklich wie eine Immigrantin gefühlt. Ich muss zugeben, an jenem Tag gedacht zu haben, noch vor dem Anfang aufgeben zu wollen, aber alles wurde dann allmählich besser. Die finanziellen Schwierigkeiten bleiben. Amsterdam ist eine sehr teure Stadt und die Mieten stellen ein echtes Problem dar. Außerdem leide ich wegen des Wetters, vielleicht weil ich ständig mit dem Fahrrad unterwegs bin, auch wenn es regnet oder kalt ist. Die Entfernung von Familie und Freunden macht alles nur komplizierter. Einmal pro Monat besuche ich sie in Italien, weil ich es nicht ertragen kann, die wichtigen Momente in ihrem Leben zu verpassen. In Amsterdam sind die Menschen eher unaufmerksam. Als ich noch in Italien lebte, störte mich das übertriebene Interesse der Leute, nun vermisse ich es. Hier kümmert sich jeder um seinen eigenen Kram, es mangelt an menschlicher Nähe. Seitdem ich im Ausland wohne, liebe ich mein Heimatland und meine Landsleute viel mehr und fühle mich selbst italienischer als früher. Wenn ich zurück in Italien bin, gefällt mir alles, sogar das, was ich früher hasste, von meinem Auto über das Geräusch der Grillen, mein kleines Dorf bis hin zum Gemüsegarten meiner Oma. Jedes Mal ist es wie eine ‚psychologische Rückkehr’.“

Italiener und Niederländer in Amsterdam

„Amsterdam ist eine lebenswerte Stadt. Mit dem Fahrrad kann man überall hin. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind teuer – eine Monatskarte kostet 80 Euro –, funktionieren dennoch einwandfrei. Ich liebe das Bijlmer-Viertel, in dem viele Einwanderer aus Suriname leben, weil es wie ein Ort wirkt, der aus dem Kontext gerissen wurde. Spazieren gehe ich gerne in die Neun Straßen, besuche dort Vintageläden und Lokale. Für mich wirkt Amsterdam sehr gastfreundlich, so wie die Niederlande im Allgemeinen. Das einzige Hindernis für die Neuankömmlinge ist die Sprache. Niederländisch ist zwar hart, aber eigentlich können hier alle Englisch, was ein großer Vorteil für die Ausländer ist. Nur einmal ist es mir bis heute passiert, mit jemandem nicht kommunizieren zu können. Das war der Mechaniker, der mein Fahrrad reparieren sollte und nur Niederländisch konnte. Die Gesten kamen uns zu Hilfe. Alle, die Englisch können, werden hier gleich behandelt, egal ob Einheimische oder Ausländer. Diskriminierung habe ich nie erlebt, obwohl es selbstverständlich einige Vorurteile gegenüber den Italienern gibt. In meinen Augen wirken die Niederländer unerschrocken und fröhlich, sie kleiden sich eher casual und ziehen den Koffer hinter ihrem Fahrrad her. Die Frauen schminken sich selten – jetzt mache ich es auch so. Ihr Lebensstil ist völlig anders. Im Gegensatz zu uns Italienern planen sie zum Beispiel alles im Voraus. Ich fühle mich mit den Niederländern sehr wohl, besonders mit den Frauen, die stark und entschlossen sind. Hier ist der Feminismus so ausgeprägt, dass die Männer manchmal wie Schwächlinge wirken. Nichtsdestotrotz gehen meine Kontakte zu den Einheimischen leider normalerweise nicht über das Arbeitsumfeld hinaus. Sorgen und Freuden meines Privatlebens teile ich meistens mit anderen Auswanderern.“

Der Brief an Minister Poletti

„Nach der Veröffentlichung des Briefs an Poletti habe ich mich wie die Verfechterin von etwas gefühlt, das ich gar nicht verkörpere. Ich selber betone immer, dass die Italiener im Ausland nicht besser als diejenigen sind, die bleiben. Ich betrachte mich nicht als ein Beispiel des Braindrains, sondern einfach als einen Menschen, der seinen beruflichen Weg fern von der Heimat gefunden hat. Viele reagierten auf meinen Brief mit solidarischen Nachrichten und teilten mit mir ihre Erfahrungen als Auswanderer. Andere beschimpften mich hingegen aus unterschiedlichen Gründen, entweder weil ich mein eigenes Foto zusammen mit dem Brief gepostet hatte oder weil sie behaupteten, dass ich Verbindungen habe, oder aber weil sie meine Worte über die menschliche Nähe in Italien für übertrieben und rhetorisch hielten. Ich habe immer offen über meine eigene Geschichte geredet und leide unheimlich, wenn ich grundlos von Unbekannten angegriffen werde. Der Brief an Poletti wirkte sich aber zweifellos positiv auf meinen Job aus. Nach der ganzen Geschichte wurde mein Arbeitsvertrag in Amsterdam verlängert. Ich weiß noch nicht, was in der Zukunft geschehen wird. Einerseits möchte ich zurück nach Italien, andererseits habe ich Angst vor befristeten Arbeitsverhältnissen, vor der Diskriminierung von Frauen auf der Arbeit und vor der Enttäuschung über die dort herrschende Lage.“