Spagat zwischen den Kulturen: Die Inszenierung von „Tee im Harem des Archimedes” am Deutschen Theater

Selten sind Adaptionen so gelungen wie bei Nuran David Calis, der an den Berliner Kammerspielen Mehdi Charefs Roman „Tee im Harem des Archimedes“ inszeniert hat. Dieser erschien in Frankreich 1983 und wurde prompt zum Kultbuch. Zwei Jahre später brachte Charef dann einen eng an seinem Buch angelehnten Kinofilm heraus, der sofort zu einem riesigen Erfolg wurde: 22 Wochen lief er in den Sälen. In „Tee im Harem des Archimedes“ hat Charef seine eigene Geschichte aufgeschrieben (im Buch nennt er sich “Mahid”). Charef kam 1952 mit zehn Jahren aus Algerien nach Frankreich, wo er mit seiner Familie im Pariser Vorort Nanterre lebte. In „Tee im Harem des Archimedes“ hat er sein Ankommen in Frankreich, diverse Demütigungen, das Gefühl der Ausgrenzung und den Spagat zwischen den Kulturen verarbeitet. Im Mittelpunkt von Charefs Erzählung steht eine Clique von Jugendlichen, mit denen er seine Zeit verbringt und die für ihn zunehmend zur Ersatzfamilie wird. In einer Existenz am Rand der Gesellschaft ist Freundschaft der einzige Wert, der Bestand hat. Obwohl Charefs Roman schlecht endet (die Clique wird mit einem gestohlenen Auto und Drogen von der Polizei erwischt und festgenommen), ist der Tenor dennoch nicht komplett hoffnungslos. Gemeinsam sind die Demütigungen schließlich leichter zu ertragen.

Ein derart starkes Buch in ein Theaterstück umzuwandeln, ist nicht leicht. Zumal viele Zuschauer ja auch den Film gesehen haben dürften. Der Gefahr, lediglich eine schlechte Kopie zu schaffen, ist Regisseur Calis entgangen, indem er sich in weiten Teilen vom Text gelöst und etwas Eigenes geschaffen hat. Entstanden ist eine multimediale Inszenierung bestehend aus von den Schauspielern gespielten Musikeinlagen, Videosequenzen und Textpassagen. Die Dramaturgen Claus Caesar und Kristina Stang haben einige Originaltöne aus der Romanvorlage verwendet, die sie dann allerdings durch einen neuen Text ergänzt haben. Dieser weist zahlreiche Bezüge zur aktuellen Situation in Deutschland auf.

Calis’ Inszenierung kritisiert stark den in seinen Augen verlogenen Umgang eines Großteils der deutschen Gesellschaft mit Asylsuchenden. Auf der einen Seite stehen Pegida-Anhänger. Auf der anderen Seite lauern vorgeblich zuwanderungsfreundliche Stimmen, die auf Kuschelkurs sind und sich gerne als Wohltäter inszenieren. Für die reale Situation von Asylsuchenden haben sie genauso wenig offene Ohren wie ihre zuwanderungsfeindlichen Mitbürger. Calis prangert die Unwissenheit und das mangelnde Interesse der Aufnahmegesellschaft an. Er appelliert an uns, einfach nur mal zuzuhören beziehungsweise Fragen zu der Situation im Herkunftsland zu stellen (ohne vorzugeben, bereits die Antwort zu kennen). Kein gutes Haar lässt Calis an der Praxis deutscher Asylverfahren. Parodieartig betet ein Schauspieler den scheinbar endlosen Fragenkatalog der Anhörung herunter, sein Tonfall wird immer schärfer, irgendwann bellt er die Fragen förmlich. Der Befragte versteht kein Wort, er ist erschöpft und traumarisiert von seiner Reise, die Monate gedauert hat. Seine Hoffnung, endlich in einer freien und toleranten Gesellschaft angekommen zu sein und auf die Sicherheiten des Rechtsstaates vertrauen zu kommen, zerbirst mit jeder Frage ein Stück mehr. Im Hintergrund wird die Weihnachtsansprache von Bundespräsident Joachim Gauck eingeblendet – darin ruft er zum Schutz von Flüchtlingen auf und fordert Frieden auf Erden. Das wirkt ironisch angesichts der nachgestellten, sich durch eine Eiseskälte auszeichnenden Asylanhörung. Allerdings ist diese Kritik ungerecht, da Gauck – im Gegensatz zur Kanzlerin – mehrfach (und mit deutlichen Worten) bewiesen hat, wie wichtig ihm das Thema Migration ist.

Ähnlich scharf fällt Calis’ Kritik an der EU aus. Christoph Franken (der einzige Schauspieler in diesem Stück ohne Migrationshintergrund) persifliert die EU gnadenlos. Er selbst ist die EU. Gekleidet ist er in einen blauen Latexanzug mit gelben Sternen auf der Vorderseite. An einem Fuß trägt er einen Socken mit Deutschlandflagge. In der Hand hält er das olympische Feuer. In einem Schlauchboot ankommende Flüchtlinge wehrt er allerdings mit Gewalt ab. Franken schubst sie aus ihrem Boot und tritt so lange auf selbiges ein, bis er es beinahe zerstört. Mit einem hämischen Lachen führt er einen befremdlich anmutenden Tanz auf. Er setzt sich in Szene, kokettiert mit dem Publikum und dreht sich immer wieder um sich selbst. Die Flüchtlinge schauen ihm mit offenen Mündern zu, zu einer Interaktion kommt es nicht.

Franken dürfte – genau wie seine Mitspieler – einer der Hauptgründe für die Gelungenheit von Calis’ Inszenierung sein. Sie alle überzeugen durch eine große Lebendigkeit und Authentizität. Man nimmt ihnen ohne weiteres ab, dass sie hinter ihren Rollen stehen und die von ihren Charakteren  vorgebrachten Meinungen durchaus mittragen könnten. Sehr eindrucksvoll verkörpern sie die Zerrissenheit von Einwandererkindern. „Ich bin weder Araber noch Franzose,“ stellt Mahid lakonisch fest. Die Kultur ihres Heimatlandes kennen sie alle nur noch aus Erzählungen ihrer Eltern. Als sie ihrem deutschen Freund (wieder gespielt von Christoph Franken) zeigen wollen, wie eine rituelle Waschung im Islam funktioniert, stellen sie fest, dass sie das selbst nicht so genau wissen. Uneinigkeit herrscht bereits bei der Frage, in welcher Richtung sich Mekka befindet. Irgendwann einigen sie sich lauthals.

Was sie in ihrer Unwissenheit verbindet, ist die momentane Überlegenheit ihrem deutschen Freund gegenüber. Einmal ist der Deutsche der ignorante Underdog. Diese Stärke nutzen sie jedoch nicht gegen ihn. Geduldig und auch ein bisschen stolz schildern sie ihm das Prozedere.  So groß ist ihre Freude am seinem Interesse an ihrer Kultur. Ein Mädchen erklärt ihm, wenn kein Wasser zur Verfügung stünde, würde man sich notfalls mit Sand die Hände reinigen. Der Deutsche übertreibt das Ganze und stopft sich Sand in den Mund, den er lachend wieder ausspuckt. Anstatt sich angegriffen zu fühlen, lachen seine muslimischen Freunde einfach mit. Durch das gegenseitige Interesse an der Kultur des anderen ist Vertrauen entstanden.

Der Appell, Interesse zu zeigen, ist im Idealfall das, was die Zuschauer von Calis’ Inszenierung mit nach Hause nehmen. Wenn einem Theaterstück das gelingt, erweist es sich als wirkungsvoller, als es die Politik oft zu sein vermag. Der Applaus ist jedenfalls tosend. Calis’ Botschaft scheint angekommen zu sein. Leider war dies die vorerst letzte Vorstellung an den Kammerspielen. Bleibt zu hoffen, dass Calis’ Inszenierung in der kommenden Saison wieder aufgenommen wird. Verdient hätte sie es zweifelsohne.

Tee im Harem des Archimedes

(Nach dem gleichnamigen Roman von Mehdi Charef)

Uraufführung an den Berliner Kammerspielen des Deutschen Theaters: 9. Februar 2014

Regie: Nuran David Calis

Bühne: Irina Schicketanz

Kostüme: Tine Becker

Musik: Vivan und Ketan Bhatti

Dramaturgie: Claus Caesar, Kristina Stang

Besetzung: Ibrahima Baldé, Ketan Bhatti, Vivan Bhatti, Christoph Franken, Alper Senocak, Süheyla Ünlü, Marof Yaghoubi

Deutsches Theater 

Schumannstraße 13a, 10117 Berlin

Photo (C) Arno Declair